Understanding Heritage. Perspectives in Heritage Studies.\u00a0<\/strong>De Gruyter: Berlin, Boston 2013, 199 Seiten,\u00a0 ISBN 978-3-11-030830-3\/ e-ISBN 978-3-11-030838-9\/ ISSN 2196-0275<\/em><\/p>\nBuchbesprechung von Prof. Dr. Renate Nestvogel<\/strong><\/p>\n2012 feierte die UNESCO das 40j\u00e4hrige Bestehen der Welterbekonvention sowie das 20j\u00e4hrige Bestehen des Memory of the World Programme<\/em>. Zusammen mit der 2003 verabschiedeten Convention for the Safeguarding of the Intangible Cultural Heritage<\/em> und der Convention on the Protection and Promotion of the Diversity of Cultural Expressions <\/em>(2005) bilden diese Abkommen ein umfassendes normatives Instrumentarium, um das vielf\u00e4ltige Erbe der Menschheit w\u00fcrdigen und sch\u00fctzen zu k\u00f6nnen.<\/p>\n<\/p>\n
Dieser erste Band f\u00fchrt in die vielf\u00e4ltigen Bedeutungsebenen des Konzepts Welterbe und in daraus hervorgegangene Diskurse und Perspektiven aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen (wie Anthropologie, Arch\u00e4ologie, Architektur, Ethnologie, Denkmalspflege, \u00d6kologie, Kunstgeschichte) und ebenso in interdisziplin\u00e4re Ans\u00e4tze aus den Sozial- und Kulturwissenschaften f\u00fcr den Aufbau von Welterbe-Studien ein. In Abgrenzung zu einer vierb\u00e4ndigen Reihe, die im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts erschienen ist und die Abkommen im Hinblick auf ihr Potential, das Welterbe effektiv zu sch\u00fctzen und nachhaltig zu nutzen, ausgewertet hat, geht es in dieser zweiten Reihe, wie Albert schreibt, um neue erkenntnistheoretische Ans\u00e4tze mit dem Ziel, das Erbe der Menschheit im Kontext aktueller Entwicklungen (Globalisierung, Migration, Medialisierung) zu untersuchen und Antworten auf neue Herausforderungen zu finden.<\/p>\n
Die zw\u00f6lf Beitr\u00e4ge sind in vier Themenbereiche untergliedert. Zum ersten Thema \u201eParadigmatische Ver\u00e4nderungen in Interpretation und Identifikation\u201c skizziert N.A. Silberman eine 4000 Jahre alte Tradition, die Bedeutung alter Kulturst\u00e4tten, historischer Pl\u00e4tze und Monumente sowie Landschaften zu entschl\u00fcsseln und zu vermitteln. Erst in neuerer Zeit – unter Bedingungen von Kriegen, Grenzkonflikten, Stadterneuerung, Gentrifizierung, Migration, Enteignungen etc. – hat sich ein st\u00e4rkeres Bewusstsein f\u00fcr Interpretationskonflikte und -kontroversen entwickelt, sodass ein sozialer, \u00f6konomischer und symbolischer Wertewandel von Kulturerbe auch neue theoretische Paradigmen erfordert. Z.B. hat die Ausbreitung des Neoliberalismus mit seiner von „vested interests and technocratic expertise“ gelenkten Medialisierung und Konsumorientierung ein Konzept von Welterbest\u00e4tten als nostalgische Unterhaltungsst\u00e4tten gef\u00f6rdert, die, unabh\u00e4ngig von ihrem historischen und universellen Wert, prim\u00e4r als Einkommensquelle, d.h. als Ware betrachtet werden. Dagegen setzt sich Silberman in Anlehnung an Habermas‘ Ideal eines „rationalen \u00f6ffentlichen Diskurses'“ f\u00fcr ein Paradigma ein, das die Interpetation von Kulturerbe als Prozess (und nicht als Produkt) versteht, der von einem zivilen Engagement und von Gruppenaktivit\u00e4ten der jeweiligen Community und der Kooperation von Experten wie auch Nicht-Experten getragen werden sollte.<\/p>\n
\n- Logan pl\u00e4diert f\u00fcr einen explizit menschenrechtsorientierten Ansatz im Management von Welterbest\u00e4tten in Einklang mit diversen UN-Initiativen. Hierbei geht es u.a. um die Rolle der lokalen Communities, insbesondere auch der indigenen Bev\u00f6lkerung bei der Identifizierung, Deutung und Verwaltung ihres Erbes. Es geht weiterhin um den evtl. Missbrauch von Erbe zur St\u00e4rkung von Machteliten und dominanten ethnischen Gruppen und \u00f6konomischen Interessen, um die Bestimmung von Rechten und Pflichten und die Einbeziehung aller Beteiligten\/Betroffenen in Projekte oder Ma\u00dfnahmen, ungeachtet ihrer Position in Machtstrukturen. Es geht um das immaterielle Kulturerbe, so wie es sich in kulturellen Gepflogenheiten und der kulturellen Identit\u00e4t mancher ethnischer Minderheiten pr\u00e4sentiert und oft in Konflikt mit regionalen und nationalen Interessen ger\u00e4t sowie um soziale und \u00f6kologische Nachhaltigkeitsaspekte. Gleichzeitig werden die universellen Menschenrechte nicht als der Weisheit letzter Schluss betrachtet, zumal die Zusammenh\u00e4nge zwischen Individual- und Gruppenrechten schwierig zu kl\u00e4ren sind. Manche Staaten lehnen diese Rechte als zu westlich ab. Auch konfligierende Menschenrechte (z.B. Kulturrechte vs. Diskriminierung von Frauen und Kindern) tauchen auf. Deutlich wird, dass die Bewahrung von Kulturerbe weit \u00fcber technische Fragen hinaus fundamentale philosophische und ethische Fragen aufwirft.<\/li>\n
- Smith skizziert die Bedeutung der Theorie und Praxis des relativ neuen Erbe-Bereichs der Kulturlandschaft f\u00fcr den Gesamtbereich des Welterbes. Die enge Verkn\u00fcpfung von Natur und Kultur auch im Menschen selbst, der in diesem \u00f6kologischen Paradigma vom objektiven Beobachter zum engagierten Teilnehmenden und Erlebenden wird, ist eine v.a. indigenen V\u00f6lkern zu verdankende Einsicht und hat Konsequenzen f\u00fcr die Wahrnehmung materieller und immaterieller Aspekte von Kulturerbe in ihrer komplexen Verwobenheit und vieldeutigen Vielfalt. Smith leitet hieraus die Notwendigkeit einer Einbettung des kulturellen Erbes in gr\u00f6\u00dfere soziale, kulturelle, politische und \u00f6konomische Kontexte ab, was wiederum Konsequenzen f\u00fcr Bildung und Ausbildung sowie eine modifizierte Verkn\u00fcpfung von Theorie und Praxis hat.<\/li>\n
- Zum Themenbereich Konzeptuelle Ver\u00e4nderungen zeichnen C. Cameron und M. R\u00f6ssler die Entstehung und Bedeutung der World Heritage Convention (1972) und die sp\u00e4te Entwicklung von Monitoring- und Berichterstattungs-Systemen f\u00fcr eine angemessene Konservierung von Weltkultur- und Naturerbest\u00e4tten nach. M. Turner wendet sich den spezifischen Merkmalen historischer urbaner St\u00e4tten im Kontext urbanen Wachstums und (rapidem) Wandel zu, skizziert m\u00f6gliche Konflikte zwischen Konservierung und Stadtentwicklung und pr\u00e4sentiert die Entstehung diverser UNESCO-, EU- und anderer Deklarationen und Dokumente, v.a. die Recommendation on the Historic Urban Landscape<\/em>, die die Komplexit\u00e4t der zu ber\u00fccksichtigenden Kriterien und der beteiligten Disziplinen, Institutionen etc. zu erfassen verm\u00f6gen.<\/li>\n
- Pereira Roders und R. van Oers fokussieren Schwachpunkte bisheriger Analysen zu den Auswirkungen verschiedener Entwicklungs- und Wandlungsprozesse auf das zu bewahrende Kulturerbe und pr\u00e4sentieren Analyseraster, die v.a. auch die Bedeutung der St\u00e4tten, d.h. ihren Wert (Outstanding Universal Value) und deren zentrale Komponenten (untergliedert nach acht Variablen: sozial, \u00f6konomisch, politisch, historisch, \u00e4sthetisch, wissenschaftlich, \u00f6kologisch und Alter) mit erfassen. Schlie\u00dflich bietet es auch eine wissenschaftliche Basis, um den Zusammenhang zwischen den Faktoren, die das Welterbe bedrohen und den zentralen Komponenten (Attributen) genauer zu erkennen.<\/li>\n
- Zum Thema \u201eKulturerbe jenseits der Konstruktion von Bedeutung verstehen\u201c geht M. Dormaels dem Begriff heritage und seinen Bedeutungsnuancen in Auseinandersetzung mit (fr\u00fcheren) Teil-Synonymen wie „masterpiece“, „historical monument“ oder „patrimony“ nach und vergleicht diese mit (scheinbaren) \u00c4quivalenten im Franz\u00f6sischen (h\u00e9ritage, patrimoine) und Spanischen (herencia, patrimonio\/hist\u00f3rico). Hierdurch wird der Charakter des sozialen Konstrukts deutlich, das von einer sozialen Gruppe erzeugt wird, um Identit\u00e4t zu markieren und folglich einer Interpretation sowie Wissen um soziale, kulturelle und historische Kontexte bedarf.<\/li>\n
- Cummins befasst sich in komplexen Argumentationsketten mit dem fragmentierten Charakter des karibischen Erbes und der fragmentierten karibischen Identit\u00e4t und analysiert die museale Repr\u00e4sentation eines kolonialdurchdrungenen Wissens („coloniality of knowledge“), das sich auch in s\u00e4mtlichen historischen Diskursen widerspiegelt und folglich als Kulturerbe der Karibik nur das koloniale\/imperiale im Blick hatte – unter Ausblendung des indigenen indianischen wie auch afrikanischen Erbes. Die Einbeziehung dieses verschwiegenen, unsichtbar und stumm gemachten, oft maskierten und marginalisierten Erbes sieht sie vorzugsweise durch „performances'“ gegeben, die dieses prozesshaft, partizipatorisch, verst\u00f6rend sowie hegemoniale und universalisierte Gewissheiten destabilisierend in materialisierten wie immateriellen Formen darzustellen verm\u00f6gen.<\/li>\n
- Lipp wendet sich speziell der Aufzeichnung\/Medialisierung des immateriellen Kulturerbes zu, also Praktiken, Repr\u00e4sentationen, Ausdrucksformen, Wissen und Fertigkeiten (dazu geh\u00f6ren auch Instrumente, Objekte, Artefakte und Kulturr\u00e4ume), die Communities und Gruppen als Teil ihres kulturellen Erbes betrachten und von ihnen, in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt, der Natur und ihrer Geschichte, st\u00e4ndig neu geschaffen werden. Er deckt eine Reihe von komplexen theoretischen wie praktischen Problemen auf, die bei der „Materialisierung des Immateriellen“ auftauchen und pl\u00e4diert f\u00fcr die Entwicklung multidisziplin\u00e4rer Kooperation, f\u00fcr verst\u00e4rkte M\u00f6glichkeiten der Selbstrepr\u00e4sentation und f\u00fcr mehr face to face-Austausch unter den Gestaltern immaterieller kultureller Praktiken.<\/li>\n
- Im Rahmen des vierten Themenbereichs, Herausforderung durch neue Medien, stellt A.C. Prodan die qualitative und quantitative Bedeutung von dokumentiertem Wissen (definiert als Information plus Informationstr\u00e4ger) und seine Basis, das UNESCO Memory of the World (MOW)-Programm (1992) heraus, wobei sie diese Bedeutung in Kontrast zu der realen Vernachl\u00e4ssigung und geringen \u00f6ffentlichen wie auch professionellen Aufmerksamkeit sieht. Um zu einem vertieften Nachdenken \u00fcber die St\u00e4rkung seiner Bedeutung anzuregen, befasst sie sich theoriefundiert mit Relationen zwischen Wissen(sgesellschaft) und kollektiver Erinnerung, Dokumentenerbe und oralen Traditionen, freiem oder monopolisiertem Zugang zu Wissen und der ambivalenten Rolle digitaler Informationstr\u00e4ger\/Internet.<\/li>\n
- Koch diskutiert die Bedeutung der digitalen \u00c4ra und entsprechender Medienforschung f\u00fcr die Kulturerbe-Forschung. Sie entwickelt ein Analyseschema auf der Basis von F. Barths „Anthropology of Knowledge“ (2002), der Kultur in drei Facetten aufteilt (Reservoir an Wissen sowie dessen mediale Repr\u00e4sentation und soziale Organisation) und erweitert dessen Perspektive um das Konzept der Re-Medialisierung, um – veranschaulicht an zwei Beispielen – die zentrale Bedeutung der Medien als treibende Kraft – nicht nur f\u00fcr sozialen Wandel, sondern auch f\u00fcr eine m\u00f6gliche (Wieder-)Belebung kulturellen Erbes und kultureller Produktivit\u00e4t einer sozialen Gruppe zu betonen.<\/li>\n
- Halsdorfer fragt nach der Bedeutung des Internets f\u00fcr das UNESCO-Ziel einer Bewahrung von immateriellem Kulturerbe, das traditionell, zeitgen\u00f6ssisch und lebendig zugleich sein soll und digitales, virtuelles wie auch neues Erbgut (new heritage, ein Begriff, der auf soziale, \u00f6konomische und politische Kontexte verweisen soll) umfasst. Sie pl\u00e4diert daf\u00fcr, dass nicht nur Traditionen aufgenommen werden, die in Communities lebendig erhalten werden, sondern auch solche, die als Quelle f\u00fcr (auch digitale und virtuelle) Neusch\u00f6pfungen verwendet werden. Dies soll der Tatsache Rechnung tragen, dass Kulturen nicht statisch (und in ihrem Urzustand konservierbar), sondern dynamisch und damit interpretativen und performativen Wandlungsprozessen im Rahmen gesellschaftlichen Wandels unterworfen sind.<\/li>\n<\/ol>\n
Insgesamt liefern die Beitr\u00e4ge einen wichtigen theoretischen und paradigmatischen Fundus, der die Welterbe-Debatte um kritische, bisherige Reflexionen vertiefende wie auch erweiternde Aspekte bereichert und manche paradigmatischen Selbstverst\u00e4ndlichkeiten in Frage stellt. Auch wenn deutlich wird, dass die Inhalte einer internen Verst\u00e4ndigung und Weiterbildung von mit Welterbe befassten Experten dienen und ein f\u00fcr diese sehr aufschlussreiches Wissen transportieren, bietet diese Studie doch auch einer aufgekl\u00e4rten und interessierten \u00d6ffentlichkeit Einblicke in einen Bereich, der – eben als das Erbe der gesamten Menschheit – alle betrifft.<\/p>\n